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Channel: Kommentare zu: Verschickungskinder
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Von: Karin Kanitz

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Liebe Fr. Röhl,
auch ich bin eingebranntes Kind gewesen und hatte 1962 und 1968 zweimal das „Vergnügen“, in einem „Erholungsheim“ jeweils für 6 Wochen untergebracht worden zu sein. Die Reisen waren von der Deutschen Post in Berlin organisiert und wurden für angehörige Kinder und Postangestellte zu günstigen Konditionen angeboten.
Besonders Ziel dieser Reise war jeweils Gewichtszunahme sowie das Brechen junger Seelen. Die erste Reise, ich war gerade 5 Jahre alt, ging im Winter nach St. Peter Ording an der Nordsee. Es nannte sich „Kinder-Erholungsheim“.
Ich kann mich an sehr viele Gegebenheiten erinnern. Oftmals habe ich die schrecklichen, traumatisierenden Dinge bis dahin verdrängt, indem ich glaubte, alles nur „geträumt“ zu haben. Nur meine 1 3/4 Jahre ältere Schwester holte mich immer wieder in die Realität zurück, indem wir oftmals unsere Erinnerung gemeinsam teilten (bis heute !)
Auch eine zufällige Begegnung mit einem Studenten, der am gleichen Ort auch in sehr jungen Jahren 6 Wochen seines Lebens verbringen musste, bestätigte meine grässlichen Erinnerungen.
Mittels Spiegelstrichen möchte ich Teile meines dortigen Aufenthaltes in Form eines Brainstormings beschreiben:
-die dortigen „Erzieherinnen“ verlangten als „Tante“ angeredet zu werden.
-jeden Morgen verpflichtend 2 tiefe Teller voll mit Haferschleim zu essen. Kein Brot
-die Essenseinnahme wurde strengstens kontrolliert.
-jeden Vormittag dasselbe Programm bei Wind und Winterwetter; stundenlange Spaziergänge
-Mittagessen: Man wurde gezwungen, große Portionen einzunehmen, auch wenn man keinen Bedarf mehr hatte. man musste solange an seinem Platz sitzen, bis man seinen Teller geleert hatte.
Toilettengang: Im direkten Anschluss an das Mittagessen, musste man in langen Schlangen vor den Toiletten anstehen. Eine „Tante“ teilte jeweils in rationierten Mengen Toilettenpapier zu. Da wir oftmals keinen Drang zur Notdurft hatten, schloss ich mich in der Toilettenkabine ein, um gemeinsam mit meiner Schwester zu weinen. Wir hatten nicht den Mut, den Toilettengang zu verweigern. Es war auch die einzige Chance, mal für ein paar Minuten unbeobachtet zu sein.
-Mittagsruhe: Danach wurde eine 2-stündige Mittagsruhe verordnet. In dieser Zeit war es verboten, den Schlafsaal zu verlassen (ca. 10 Mädchen pro Saal). Also war es auch nicht möglich, nach Bedarf die Toilette aufzusuchen. Auch ein Nachttopf wurde am Nachmittag nicht bereitgestellt.
-Imbiss: Direkt nach dem Mittagsschlaf wurden Brote mit Pflaumenmus verteilt. Wer keinen Appetit hatte, wurde bestraft.
-Post: Jeden Tag wurde die Post (heißersehnt) verteilt. Kinder, die keine Post erhielten, wurden nicht getröstet, sondern in ihrer Enttäuschung ignoriert.
-Briefe an die Eltern: Von uns geschriebene Briefe wurden seitens der „Tanten“ kontrolliert. Es durfte nichts Negatives geschrieben werden, ansonsten mussten wir erneut Texte verfassen. (Ich war noch zu jung, um zu schreiben. Ich malte Bilder an die Eltern in der Hoffnung, von den „Tanten“ gelobt zu werden.
-Nachtruhe: Auch in der Nacht war es verboten, das Bett zu verlassen. Es wurde in den Schlafsaal (ca. 10 Kinder) ein Nachttopf zur Verfügung gestellt.
Sollte man nach Mitternacht einen Drang zum Urinieren gehabt haben, musste man, um an den bereits übergelaufenen Topf zu kommen, durch erkaltete Urinlachen laufen (stets von der Panik begleitet, andere Exkremente zu verlieren). Deswegen ist es mir einmal passiert, dass ich in die Hose machte und am nächsten Tag wurde ich von den „Tanten“ offiziell ausgelacht und mit den Worten bedacht: „Seht her, wir haben einen kleinen Hosenscheißer unter uns ! “ Der verschmutzte Schlafanzug wurde den anderen Kindern gezeigt, was eine große Peinlichkeit bei mir auslöste.

„Erholungsreise“ 1968 nach Lenggries (Oberbayern)
Leider habe ich nicht so viele Erinnerungen an diesen Aufenthalt. Bruchstückhaft kann ich mich nur erinnern:
-da ich zu der jüngeren Gruppe gehörte, wurde ich nachts räumlich von meiner Schwester getrennt. Weil ich protestierte und weinte, gab man meinem Wunsch nach, mit meiner Schwester in einem Raum zu schlafen. Bei mir waren allerdings die Betten kürzer, sodass meine Schwester 6 Wochen lang in einem viel zu kurzen Bett schlafen musste.
-Briefe: Da mein Vater von den Briefkontrollen wusste, hatte er bei der Reise nach Lenggries die raffinierte Idee, die Briefe mit Nadelstichen (Note 1 bis 6; 1 Stich bis 6 Stiche) zu versehen. Natürlich stachen wir jeweils 6 Nadelstiche, bei jedem Brief !
Allerdings reagierten unsere Eltern nicht !
-Heimreise/Ankunft: Meine Mutter und ich können uns ungenau daran erinnern, wie ich mich beim Wiedersehen in ihre Arme stürzte und endlos lange weinte.


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