Mein Vater hat sich das Leben auf eine furchtbare Weise genommen. Das war für mich schon ein schreckliches Erlebnis. Ich war damals gerade 7 Jahre alt.
Damit aber nicht genug! Wer auch immer es damals für richtig befunden haben, mich dann im Alter von 7 Jahren als Verschickungskind nach Mittenwald (Oberbayern) zu schicken, der oder diejenigen Menschen haben mir meine Kindheit genommen!!
Ich, sowie zwei meiner Brüder, wurden an einem Tag im Oktober 1980 auf die Reise nach Mittenwald geschickt. Wir wurden in einen Zug gesetzt. Laut meinen Brüdern, waren wir in Begleitung einer Dame. Da ich unter Reisekrankheit leide, hatte man mich mit Reisekaugummis und Reisetabletten vollgestopft. Wir waren stundenlang unterwegs.
In Bayern angekommen, wurden wir von dort aus mit einem Mehrsitzer abgeholt und zum Kinderheim gebracht.
Wir wurden dort sofort getrennt. Meine Unterkunft war etwas höher gelegen, als dort wo meine Geschwister untergebracht waren. Sie wurden übrigens auch auf getrennten Zimmern verteilt.
Mein Zimmer befand sich auf der linken Seite am Ende eines Flures. Ich hatte das Bett auf der rechten Seite in der unteren Etage ganz hinten zur Wand.
Am Abend unserer Ankunft bekamen wir Leberkäse zum Essen. Ich kannte diese Art von Gericht nicht und es schmeckte mir auch nicht. Ich musste meinen Teller aber leer essen.
Ich war als kleines Mädchen mit 3 Jahren bereits trocken. Im Heim bin ich das Bettnässen wieder angefangen. Als ich nun das erste mal wieder ins Bett gemacht hatte, musste mein großer Bruder kommen und mir mein Bett neu überziehen. Ich fühlte mich schrecklich. Ich kann mich dran erinnern, dass ich dort saß und geweint habe. Etwas Positives hatte es ja! Ich habe meinen Bruder wenigsten mal gesehen, denn während diesen sechs Wochen haben wir uns kaum gesehen.
Da ich nun wieder das Bettnässen angefangen war, wurde ich von den anderen Mädchen gehänselt und gedemütigt. Sie lachten mich aus. Ich hasste meine Zimmergenossinnen. So wie ich mich noch erinnern kann, waren sie auch etwas älter als ich. Das Bettnässen hat mich dann noch ein paar Monate bis Jahre begleitet. Ich habe mich so geschämt, dass ich teilweise meine nasse Kleidung, zuhause im Garten vergraben habe.
Eines Abends war ich in einem anderen Mädchenzimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flures. Ich konnte diese Mädchen gut leiden, sie akzeptierten mich scheinbar. Sie hatten Lippenstift oder Nagellack oder irgendetwas anderes, ich weiß es nicht mehr genau. Auf jeden Fall fand ich es toll. Aber der kurze Moment des Glücklichseins wurde mir sehr schnell vergönnt.
Es kam eine Pflegerin und hat mich am Ohr über den Flur in mein Zimmer gezogen. Sie beschimpfte mich. Ich war wohl über die Bettgehzeit?. Mein Ohr tat mir noch ziemlich lange weh.
Ich war unendlich traurig. Scheinbar durfte ich nicht glücklich sein. Ich weinte. Der Kontakt zu diesen Mädchen wurde mir zukünftig verboten.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich immer wieder Knödel essen musste. Ich hasste Knödel.
Manchmal war ich alleine in meinem Zimmer, dann habe ich bitterlich geweint. Ich wollte nach Hause, ich hatte unsagbaren Heimweh. Ich versteckte mich unter meiner Bettdecke und weinte stundenlang. Ich hasste meine Zimmergenossinnen, sie haben mich unendlich verletzt. Ich hasste einfach alles, die Mädchen, das Pflegepersonal und das Essen.
Ich kann mich daran erinnern, dass wir Wandern waren. Es war teilweise bitterlich kalt. Ich hatte keine Handschuhe. Ich sollte mich nicht so anstellen hieß es. Ein anderes Mädchen hatte mir damals einmal netterweise einen ihrer Handschuhe abgegeben, damit ich wenigstens eine Hand wärmen konnte.
Ich kann mich schemenhaft daran erinnern, das mein kleinerer Bruder die Wand an seinem Bett angemalt hatte. Wir sollten den Schaden ersetzen. Ich habe mir furchtbare Angst gemacht, denn unsere Familie hatte ja kein Geld. Wir waren ja Halbwaisen und meine Mutter verwitwet.
Nach Angaben meines älteren Bruders, wurden uns immer wieder versalzene Heringe zum Essen angeboten, diese konnte man wohl wirklich nicht genießen. Daran kann ich mich aber nicht erinnern. Das schlechte Essen an sich ist mir aber generell in Erinnerung geblieben.
Der Arzt bei dem wir uns regelmäßig in Unterwäsche vorstellen mussten, trug einen Namen an den mein Bruder sich noch sehr gut erinnern kann. Ich weiß den Namen nicht mehr. Mein Bruder hat mir ihn verraten.
In den letzten Tagen vor der Abreise hat eine Pflegerin mit mir meine Sachen gepackt. Ich weiß dass wir auf den Fußboden in meinem Zimmer saßen, sie saß rechts, ich auf der linken Seite. Dort war auch mein Halsschal. Der Schal war weiß mit roten und blauen Streifen und hatte auf der einen Seite lange Fransen, auf der anderen Seite kurze Fransen. War wohl eine Fehlproduktion. Die Pflegerin beschuldigte mich, ich hätte diese Fransen mit der Schere abgeschnitten. Sie beschimpfte mich. Ich habe diese Fransen aber nicht abgeschnitten. Der Halsschal wurde wohl damals so gekauft. Es wurde alles genau kontrolliert was in den Koffer gepackt wurde. Verheimlichen konnte man nichts. Unsere Kleidungsstücke waren mit Etiketten versehen, die meine Mutter damals vor Anreise an die Kleidung anbringen musste.
So weit ich mich noch erinnern kann, wurden mir am Abend vor dem Abreisetag sämtliche Kleidungsstücke weggenommen. Angeblich musste alles noch gewaschen werden. Ich hatte weder ein Hemdchen noch einen Slip. Morgens musste ich dann unbekleidet mein Zimmer verlassen und mich dann nackt zu den anderen in einer Reihe stellen um meine Kleidung abzuholen. Die Mädchen in meinem Zimmer lachten, als ich splitterfasernackt das Zimmer verließ. Ob ihnen das gleiche Schicksal vor bestand?? Ob nur Mädchen oder ob auch Jungs in der Reihe auf ihre Kleidung warteten, das weiß ich leider nicht mehr genau.
Ich bin seither ein ängstliches Mädchen geworden. Meine Leistungen in der Schule ließen nach. Meine Versetzung in das nächste Schuljahr war nicht gesichert.
Ich entwickelte mich zu einem schüchternen, tief traurigen Menschen. Ich hatte kein Selbstwertgefühl. Das Wort „Nein“ verlor ich wohl in meinem Wortschatz. Stattdessen lernte ich immer zu allem „Ja“ zu sagen, auch wenn ich eigentlich Nein meinte. So hat man es mir ja dort auch gelehrt. Durch Perfektionismus versuchte ich mein mangelndes Selbstwertgefühl zu vertuschen. Dieses Perfektionismus musste durch eine langjährige Psychotherapie behandelt werden. Ganz frei davon bin ich heute noch nicht. Bin immer noch in Therapie. Das ich psychisch krank geworden bin hängt sicherlich mit dem Tod meines Vaters zusammen, aber diese Kur hat mit Sicherheit auch dazu beigetragen
Ich lebe bis heute in ständiger Angst, mache regelmäßig Psychotherapie. Ich leide unter Depressionen, Angststörungen, Panikattacken und massiven Schlafstörungen.
Ich habe an diese Kur, oder wie immer man es auch nennen kann, nur furchtbare Erinnerungen.
Es gibt sicherlich noch sehr viele Dinge, die mir dort widerfahren sind. Ich war damals noch sehr klein und kann mich nicht mehr an alles erinnern. Vielleicht auch besser so, vielleicht habe ich es auch einfach nur verdrängt. Gesprochen wurde über das was geschehen war mit der Familie nicht. Wenn man mal was sagte, dann hieß es nur, die Zeiten waren damals eben so. Ich konnte mich niemanden öffnen. Erst als erwachsene Frau habe ich die Erlebnisse wohl mal meinem Ehemann und weiteren vertrauten Personen erzählt. Aber wirklich Beachtung habe ich von niemanden bekommen.
Ich habe es die Jahre verdrängt. Diese Menschen, ob die Ärzte dort im Kinderheim, die Pflegehelferinnen und der oder diejenigen die mir diese Kur verordnet haben, haben mir meine Kindheit gestohlen und mein Leben zerstört. War ich nicht schon genug durch den Suizid meines Vaters gebeutelt?? Wer kommt auf solch eine Idee, ein kleines Mädchen, welches gerade seinen Vater verloren hat in solch ein Kinderheim zu stecken??