Durch Zufall bin ich auf diese Seite gestoßen, als ich über das Kinderheim Gutermann in Oberstdorf im Allgäu recherchiert habe, in dem ich im Januar/Februar 1957 für 6 Wochen zu einer Kinderkur war. Damals war ich 6 Jahre alt und wurde mit einem „Kindertransport“ dorthin „verschickt“ Ein halbes Jahr zuvor in 1956 hatte ich sechs Wochen nach meiner Einschulung einen Unfall auf dem Schulhof, bei dem ich mit einem Jungen der achten Klasse beim Spielen zusammengestoßen und auf Rücken und Hinterkopf gefallen bin. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung und war über eine Stunde bewusstlos. Der Krankenhausaufenthalt, der auf den Unfall folgte, hat ebenfalls seine Spuren hinterlassen, die aber nicht vergleichbar sind mit denen aus der Kinderkur. Die behandelnde Kinderärztin war damals der Meinung, dass ich vor meiner erneuten Einschulung in 1957 (ich war nach dem Unfall für ein Jahr vom Unterricht zurückgestellt worden) unbedingt eine Erholungskur machen sollte. Das Kinderheim Gutermann war meinem Vater von der DAK als ein sehr gutes Haus empfohlen worden. Ich weiß noch genau, dass ich mich auf eine Zeit gefreut habe, mit anderen Kindern zusammen zu spielen und Schlitten zu fahren. Meine Mutter kaufte mir schöne neue Sachen zum Anziehen Es gab eine Liste, was alles mitgebracht werden sollte. In alle Kleidungsstücke wurden Schilder mit meinem Namen eingenäht.
An alles was danach kam, sind meine Erinnerungen nur noch sehr lückenhaft. Ich erinnere mich an einen Speisesaal, in dem eine bedrückende, angstvolle Atmosphäre herrschte. Morgens gab einen Teller Haferschleim ohne Zucker, voll bis zum äußersten Rand, und anschließend noch ein unverhältnismäßig dickes Brot mit Marmelade. Man musste sitzenbleiben bis alles aufgegessen war. Die zugeteilte Menge war viel zu viel für einen kleinen Kindermagen und man musste über das „Sattsein“ hinaus weiteressen. Einmal hat ein Junge am Tisch erbrochen. Er bekam dann das gleiche Essen nochmal vorgesetzt und musste es aufessen. Der Kurerfolg wurde damals an der Gewichtszunahme gemessen.
Ich wurde nach ein paar Tagen krank und bekam Windpocken. Man war ärgerlich auf mich und ließ mich das spüren, weil ich aufgrund der Ansteckungszeit „die von zu Hause mitgebracht haben musste“. Ich fühlte mich schuldig. Weil ich ansteckend war, brachte man mich in einer Dachkammer unter zusammen mit einem anderen Mädchen, was Masern hatte. Als meine Windpocken vorüber waren, bekam ich dann anschließend die Masern und das andere Mädchen die Windpocken. Ich habe von den sechs Wochen Kinderkur vier Wochen in der Dachkammer im Bett liegend verbracht ohne Kontakt zu den anderen. Wie ich diese Zeit überstanden habe, weiß ich bis heute nicht. Ich habe auch absolut keine Erinnerung daran, was ich die ganze Zeit über gemacht habe. Das einzige an das ich mich erinnere ist, wo mein Bett in dieser Dachkammer stand und wo das Fenster war, aus dem ich den anderen Kindern beim Schlittenfahren vor dem Haus zuschauen konnte. Einigen von ihnen hatte man meine neuen Kleider, die ich noch nie angehabt hatte, angezogen, weil sie nicht so viel mitgebracht hatten und ich die Kleider ja nicht brauchte, weil ich ja im Bett liegen musste. Das war die Erklärung. Meinen Eltern hatte man zwar gesagt, dass ich krank sei und im Bett liege, aber dass es mir gut gehe. Meine Mutter schickte daraufhin ein Paket an mich mit Süßigkeiten und meiner Lieblingspuppe. Dieses Paket habe ich nie bekommen. Meine Puppe haben sie mir auch nicht gegeben, die habe ich im Spielzimmer gefunden, als ich wieder aufstehen durfte. Da hatten inzwischen andere Kinder mit gespielt.
Ich erinnere mich auch noch daran, dass man uns bei der Ankunft im Kinderheim mitgeteilt hatte, dass wenn jemand ganz großes Heimweh bekäme, er sich melden könne und dann nach Hause dürfe. Ich bin in dieser Zeit vor Heimweh fast umgekommen und als ich es nicht mehr aushalten konnte, habe ich es gesagt in der Hoffnung dann wie versprochen nach Hause zu dürfen. Aber da wollte man von diesem Versprechen nichts mehr wissen. Damals habe ich das Vertrauen in die Zusagen von anderen Menschen gänzlich verloren.
Ein Satz von damals hat sich bei mir bis heute besonders eingebrannt. Wir wurden regelmäßig gewogen und da ich aufgrund meiner langen Krankheit trotz des vielen Essens in der ganzen Zeit nur ein Pfund zugenommen hatte, bekam ich gesagt, dass wenn ich nicht mehr zunehmen würde, ich nie mehr nach Hause dürfe. Mit schnürt sich heute noch der Hals zu, wenn ich an diesen Satz denke. Ich glaube ich hatte damals die Hoffnung aufgegeben, mein Zuhause jemals wiederzusehen.
Ich bin wieder nach Hause gekommen, allerdings als ein anderer Mensch. Meine Eltern waren entsetzt, welches Kind da aus dem Zug stieg. Zu den Krankheiten, von denen sie bereits wussten, hatte ich noch drei verbundene Finger, die sich, wodurch auch immer, entzündet hatten.
Meine Eltern waren ebenfalls entsetzt als sie die dicken Brotscheiben sahen, die man uns als Proviant für die nächtliche Zugrückfahrt mitgegeben hatte und konnten kaum glauben, dass wir diese immer essen mussten. Ich weiß auch, dass mein Vater sich bei der DAK nach meiner Rückkehr über dieses Heim beschwert hat.
Die Folgen dieser 6-wöchigen Kinderkur haben mich ein Leben lang begleitet und mein Leben sehr eingeschränkt.
Ich bin inzwischen selbst Traumatherapeutin mit einer eigenen Praxis und habe viel über Trauma gelernt und geforscht, um den Ungereimtheiten meines Lebens auf die Spur zu kommen und ich weiß inzwischen, dass vieles davon seinen Ursprung in den damaligen Erlebnissen hat.
Durch einen erneuten Sturz auf den Rücken vor einigen Wochen sind die Erinnerungen an damals reaktiviert worden und ich erlebe gerade selbst an mir, dass Trauma im Körper gespeichert ist mit allen dazugehörigen Emotionen. Ich habe nicht im Entferntesten geahnt, welche Ladung durch die damaligen Erlebnisse da in mir gespeichert ist. Kolleginnen und Kollegen, begleiten mich liebevoll mit körperorientierter Traumatherapie durch den Verarbeitungsprozess, damit die Ereignisse von damals endlich ihren Schrecken verlieren können. Im Sommer werde ich eine Woche Urlaub in dem Haus machen, in dem ich vor 61 Jahren die schlimmsten Wochen meines Lebens verbracht habe und das inzwischen zu einem Landhaus mit wunderschönen Ferienwohnungen umgebaut ist. Mein Mann begleitet mich und wir haben eine Wohnung unterm Dach angemietet, die beworben wird mit dem Zusatz „eintauchen in alte Zeiten“ – wie wahr! Es ist mir wichtig, neue Erfahrungen an diesem Ort und speziell in diesem Gebäude zu machen, um die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen und Vergangenes endlich hinter mir lassen zu können, damit es mein Leben hier und heute nicht länger beeinflusst.
Ich habe gelesen, dass für 2019 ein Kongress geplant ist, an dem ich gerne teilnehmen würde, wenn gewünscht gerne auch aktiv mit einem Beitrag über die Möglichkeiten der Traumaverarbeitung von Schock-, Entwicklungs- und Beziehunsgstrauma, wo ich sowohl aus der Theorie als auch aus meiner eigenen Erfahrung berichten kann. Gibt es für den Kongress schon einen Termin?
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Von: Brigitte Grebe
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