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Channel: Kommentare zu: Verschickungskinder
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Von: Hans-Georg

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Während einer langen Eisenbahnfahrt 1960 vom Kölner Hbf nach Emden, stiegen bis zum Ruhrgebiet immer mehr Kinder in den dampflokbetriebenen Zug. Es war Januar und bitter kalt. In Emden mussten wir unter Deck eines nicht allzu großen Schiffes, weil der Wellengang der Nordsee recht heftig war. Es handelte sich wohl um einen Fischkutter, das konnte ich mit meinen knapp sechs Jahren noch nicht richtig einschätzen.
Unser Kinderheim auf und in Borkum befand sich direkt in unmittelbarer Nähe zum neuem Backsteinleuchtturm, dessen Leuchtfeuer unser Zimmer mit 6 Kindern (oder auch 8?) nächtens einmal taghell erleuchtete und dann wieder für Sekunden ins Dunkel schickte. Die gelben Gardinen konnten dagegen nichts ausrichten.
Die einfachen Waschbecken in langer Reihe waren sehr niedrig angebracht. Auch gab es Badewannen, die auf Füßen standen und mit salzigem Wasser gefüllt waren (habe ich ausprobiert!). Es gab große Räume mit Höhensonnen, deren Strahlen wir uns regelmäßig aussetzen mussten.
Völlig ungewohnt für mich war die Zwangsmittagsruhe. Eine ganze Stunde Bettruhe! Ich habe mein ganzes Leben lang niemals Mittagsruhe oder gar -schläfchen gehalten. Für meinen natürlichen Bewegungsdrang war das eine einzige Zumutung. Mein Bettchen stand
gleich neben dem Schrank mit dem zimmereigenem Spielzeug. Obwohl streng verboten, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mit Spielzeug unter der Decke zu spielen, um die Stunde umzukriegen. Natürlich wurde ich dabei erwischt. Die Strafe: Völliger Liebesentzug der Erzieherinnen. Für kleine Kinder ist das schon ziehmlich hart – Haue wäre mir jedenfalls lieber gewesen.
Das Essen war…ungewöhnlich für mich. Meine Lieblingsspeise – falls man davon überhaupt reden kann – war Knochensuppe mit wenigen Nudeln. Den täglichen gekochten Fisch konnte ich bereits nach drei Tagen in etwa nicht mehr sehen. Essen musste ich ihn dennoch. Noch Jahrzehnte später hatte ich mit gekochten Fisch große Probleme: Essen.mag ich ihn bis heute nicht.
Weil mein Pseudokrupp (keine Ahnung, ob es damals schon so hieß) sich während der regulären sechs Wochen offensichtlich nicht gebessert hatte, erhielt ich eine Verlängerung. Während die anderen Jungs nach Hause fuhren, musste ich bleiben. Mein Heimweh erreichte ungeahnte Dimensionen. Ein kleiner Trost war, dass ich allein im Spielzimmer mit allen Lego-Klötzchen spielen durfte.
Den 6. Geburtstag „feierte“ ich im Speisesaal. Die Erzieherin öffnete mein Paket, dass in der Haupsache wohl von der Oma stammte, forderte die Runde auf mir zu gratulieren und verteilte an die Kinder den Inhalt des Paketes. Meine Geburtstagssüßigkeiten! Ich fühlte mich sehr verlassen…
Gelegentlich durften wir ins Freie: Seil mit Knoten, Kinder dran und los. Wegen der dauernden starken Winde, hatten wir Südwester auf. Sah bestimmt putzig aus, war aber sehr unbequem. Wir mussten einen Respektabstand vom Wasser halten und durften auch auf keinen Fall in die Dünen. Ich erinnere mich daran, dass ein gestrandeter Kutter schräg auf dem Strand, halb im Wasser, lag,
Die wenigen Läden hatten bereits österlich „dekoriert“, die Narzissen blühten schon. Im Andenkenladen roch es nach getrocknetem Fisch, was vielleicht von dem ausgestopften Hai(?) ausging, der über dem Tresen hing. Ich kaufte für meine Eltern als Andenken einen goldenen Blechleuchtturm, dessen Leuchteinheit mittels Schräglamellen von einem Teelicht angetrieben wurde. Der Leuchtturm stand noch lange in der elterlichen Vitrine.
Jeden Sonntag ging es in die Kirche. In die evangelische Kirche. Ich war zwar noch ein kleiner Junge, aber der Unterschied zu einer katholischen Kirche fiel mir sofort auf. Der Pastor hielt von der Kanzel quasi Religionsunterricht mit donnernder Stimme ab und bezog auch uns Kinder mit ein. Furchterregend…
Kurz vor meiner Einschulung im April 1960 kam ich wieder in Köln an. Am Bahnhof empfingen mich Mutter und Oma und kleines Schwesterchen. Die Leute kamen mir seltsam fremd vor…
Insgesamt war ich – wenn ich das recht in „Erinnerung“ habe – 12 Wochen von zu Hause weg. Für einen kleinen Jungen eine sehr, sehr lange Zeit.
Misshandelt oder schickaniert wurde ich offensichtlich nicht, kann mich an so etwas jedenfalls nicht erinnern. Allerdings war ich auch ein ruhger, schüchterner Knabe, der keine Probleme bereitete.


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