Ich bin Jahrgang 1952. Vom 11.10. – 21.11.1957 wurde ich für 6 Wochen zur „Erholung“ geschickt. Ich war nicht krank, sondern nur blass und dünn und habe auch relativ wenig und langsam gegessen. Da ich ein Einzelkind war sollte es mir guttun, mit anderen Kindern zusammenzukommen. Ich kam in das „Kinderheim Holderrain“ nach Mitteltal im Schwarzwald. Ich erinnere mich an eine riesige dunkle Holztreppe, die in die obere Etage führte. Meine Mutter hatte mir ein kleines Köfferchen mitgegeben, in dem Süßigkeiten waren für die nächsten 6 Wochen. Die sollte ich mir einteilen. Am Ankunftstag stand oben an der Treppe eine Frau in einem langen schwarzen Kleid mit strenger Knotenfrisur und einem großen Sack. Sie nahm mein Köfferchen und schüttete den Inhalt komplett in den Sack (natürlich auch von den anderen Kindern). Während der ganzen 6 Wochen haben weder ich noch die anderen Kinder auch nur eine Kleinigkeit von dem Süßen bekommen. Es gab viel Milchsuppe mit irgendwelchen „Knübbelchen“ drin. Ich aß ja sowieso langsam und weil ich die Suppe nicht mochte noch langsamer. Die meisten Kinder, die mit dem Essen fertig waren, durften dann aufstehen. Ich erinnere mich gut an einen Mittag, an dem sich mir fast der Magen umdrehte. Da saß zwei oder drei Stühle weiter ein Mädchen, die diese Suppe dann plötzlich erbrach. Sie wurde angehalten, ihr Erbrochenes wieder zu essen. Das gab mir plötzlich so eine Kraft, mein Suppe aufzuessen, weil ich auf keinen Fall mein Erbrochenes essen wollte. Mit diesem Mädchen habe ich mich angefreundet. In dem großen Schlafsaal standen bestimmt 15 oder 20 Betten. Abends nach dem Toilettengang wurde die große Schlafsaaltüre geschlossen und es war stockdunkel. Draußen saß immer eine Aufpasserin.
Es passierte manchmal, dass ein Mädchen trotzdem nachts auf die Toilette musste. Das kam dann in dieser Nacht nicht mehr zurück. Manche haben vor Angst ins Bett gemacht (auch das „große Geschäft“). Es hat dann natürlich schrecklich gerochen und am nächsten Morgen wurden diese Kinder bestraft. Da ich ja erst 5 Jahre alt war und noch nicht schreiben konnte, wurden die Karten von den Aufpasserinnen geschrieben. Der Text war überall gleich. Es kommen noch viele Dinge hoch. Meinen Sohn habe ich nie zum Essen gezwungen. Es war nie stockdunkel in seinem Zimmer. In unserem Haus standen immer alle Türen offen und ich esse immer noch nicht schnell, aber fast alles – nur keine Milchsuppe. Als ich wieder bei meinen Eltern war habe ich ihnen alles erzählt. Sie haben nichts unternommen. Ich glaube, dass mich die Zeit in dem Heim sehr geprägt hat. Ich habe mich immer für Schwache und Kinder eingesetzt und habe ein großes Gerechtigkeitsgefühl entwickelt.
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Von: Marion
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