Quantcast
Channel: Kommentare zu: Verschickungskinder
Viewing all articles
Browse latest Browse all 242

Von: Valerie Lenck

$
0
0

Hallo Anja Röhl,

ich war vom 25.08.- 19.10.1967 im Hamburger Kinderheim in Wyk auf Föhr, weil ich ein dünnes Kind war. Kerngesund, aber dünn. Vielleicht war es auch ganz schön, dass jüngste von drei Kindern mal los zu sein. Aus meiner Sicht gab es jedenfalls keinen Grund, ein so kleines Kind so lange wegzugeben.

56 DM Zuzahlung haben meine Eltern damals geleistet für 56 Tage. So steht es im Bescheid der Freien und Hansestadt Hamburg, den ich in meinen Akten gefunden habe.

Ich war 4 Jahre alt und alles, an was ich mich erinnere, ist furchtbar. Natürlich gibt es in diesem frühen Alter wenige konkrete Bilder und viel Diffuses. Meine Mutter hatte meinen Koffer gepackt und einen Zettel in den Deckel geklebt. Dort stand nicht nur der Inhalt des Koffers, sondern auch wie damit zu verfahren sei. So konnte ich das rote Kleid nur mit dem weißen Pullover darunter aushalten. Es war aus Wolle und juckte. Es war den Erzieherinnen völlig schnuppe, was meine Mutter sich da überlegt hatte. Sie machten sich darüber lustig und zogen mich damit auf. Ich musste mich so anziehen wie sie wollten. Punkt. Verweichlichungen wurden nicht geduldet.

Einmal gingen wir raus und nur die Erkälteten durften eine Mütze aufsetzen. Mir war kalt und ich zog eine Mütze an, obwohl ich nicht krank war. Da musste ich zurückbleiben. Ich weiß nicht mehr, was dann mit mir geschah, aber ich erinnere völliges Unverständnis von mir. Mir war kalt. Wo war das Problem? Ich gab mir ja Mühe nicht anzuecken. Aber das war echt schwierig. Dass ich mit Messer und Gabel essen konnte? Wurscht. Es gab sowieso nur einen Löffel in die Hand. Das Essen erinnere ich als ganz schlimm. Ich erinnere völligen Unglauben, dass ich das essen sollte.
Das ist mein vorherrschendes Gefühl zu dieser Zeit: Unglaube. Wieso muss ich mir selber die Haare waschen, was ich noch nicht konnte und das Haarwaschmittel brennt in meinen Augen, aber Messer und Gabel bekam ich nicht. Wenn ich heute darüber nachdenke, muss es so gewesen sein, dass ich es gewohnt war, dass Ver- und Gebote begründet wurden. Hier herrschte nur Befehl und Lieblosigkeit.

Meine Mutter schickte mir jeden Tag eine Postkarte und die Erzieherinnen lasen die Karte bei Tisch allen vor. Ich erinnere der Scham, die ich dabei empfand. Zwei dieser Karten habe ich noch. „Mein süßes Mottchen. Diese Karte hat Doris für dich ausgesucht.“ Das war mir offenbar peinlich.

Am schlimmsten aber war der Mittagsschlaf. Wie alle Kinder wollte auch ich den Erwachsenen gefallen und gab mir Mühe den Erwartungen zu entsprechen, aber Mittagsschlaf war für mich Zuhause schon abgeschafft gewesen, da ich schon immer weniger schlief als andere. So war es jeden Tag stundenlanges bescheuertes Stillliegen. Mir ist auch so, als wäre es irgendwie im Kalten gewesen.

Gegen Ende der Verschickung gingen wir Muscheln sammeln und dann bekamen wir alle eine Plastiktüte mit Muscheln mit nach Hause. Wahrscheinlich sollten unsere Eltern denken wir hätten einen schönen Badeaufenthalt gehabt.

Seit ich selbst ein Kind habe und realisiert habe, wie klein ein vierjähriges Kind ist, bin ich fassungslos wie meine Eltern das haben tun können. Am Bahnhof wurde ich in den Zug gesetzt. Es waren viele Kinder im Zug und vielen Eltern auf dem Bahnsteig. Der Zug fuhr los und von dem Moment an, fühlte ich mich schutzlos ausgeliefert. In meiner Erinnerung hatte ich solange Angst etwas falsch zu machen bis ich wieder Zuhause war.

Ich bin sehr froh über Ihre Initiative. Denn immer noch herrscht die Einschätzung vor, wir hätten eine schöne Ferienreise machen dürfen und es hätte vielleicht die ein oder andere kleine Unannehmlichkeit gegeben. So war es eindeutig nicht. Andere haben es hier auf der Seite schon vor mir formuliert und ich schließe mich an: Es waren die schlimmsten Wochen meines Lebens.

Schöne Grüße

Valerie Lenck


Viewing all articles
Browse latest Browse all 242

Trending Articles



<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>