Hallo Frau Röhl,
ich war im Frühjahr 1971 in Wyk. Ich weiß es nur weil im Februar meine Schwester starb und als ich wieder nach Hause kam der Flieder blühte und ich mich wahnsinnig darüber gefreut habe.
Es muss das Schloss am Meer gewesen sein, da meine Eltern bei der Barmer versichert waren. Ich erinnere mich nur in wenigen Bildern an den Aufenthalt. Das meiste liegt im Dunkeln. Meine Therapeutin meinte mal das Vergessen und Ausblenden ist eine Funktion die das Überleben der kindlichen Seele sichert. Ich weiß das ich da war, es ist aber als wäre es nicht ich gewesen sondern eine andere Person die ich beobachtet habe.
An das wenige an das ich mich erinnern kann,… ich wurde mit einem Pappschild um den Hals in Bielefeld in einen Zug gesteckt und war stolz darauf so „erwachsen“ zu sein so ein Abenteuer allein anzutreten. Hat aber nicht lange angehalten. Irgendwann waren wir alle still im Zug.
Ich erinnere mich weder an die Überfahrt mit der Fähre noch an die Ankunft. Meine nächste Erinnerung ist der Speisesaal mit widerlichem roten Tee den ich nicht herunter bekam und wohl so etwas wie Grießbrei den ich nicht essen wollte. Ich musste so lang im Speisesaal sitzen bleiben bis ich dieses Zeug gegessen habe. Das war gefühlt sehr lang. Irgendwann habe ich es wohl runter gewürgt und durfte gehen. Ich habe dann auf die Treppe gekotzt und bin verdammt schnell weg gerannt.
Die nächste Erinnerung ist wie ich in einem Mansardenzimmer im Bett lag und ganz dringend zur Toilette musste. Es wurde geflüstert das die Tanten schrecklich böse werden wenn man nachts aufsteht und zur Toilette gehen will. Und ich habe, so glaube ich, auf das rote Licht gewartet um aufstehen zu dürfen. Ich habe letztlich in Bett gemacht. Jemand hat geschrieben das dass Bettlaken, damit man sich schämt, übers Bett gehängt wurde. Ich meine mich zu erinnern das ich so ein Bettlaken über meinem Bett habe im Wind leicht flattern sehen. Ich fand es tröstlich weil es von der Einsamkeit ein wenig abgelenkt hat.
Nach dem Mittagessen mussten wir in einer Art Wintergarten Mittagschlaf halten. Ich glaube, geschlafen hat niemand. Wir durften uns nicht bewegen und schon gar nicht reden. Wer geredet hat musste für den Rest der Zeit in der Ecke stehen. Ich war auch dabei. Man musste sich vorm hinlegen überlegen in welcher Position man liegen wollte um keinen Ärger zu bekommen weil man zu unruhig war. Die Decken waren aus grauer Wolle und haben fürchterlich gekratzt. Ich habe aus Langeweile und um die, gefühlt, lange Zeit zu überstehen, die Wolle aus der Decke gezupft und Kugeln daraus gedreht.
Am Strand, so erinnere ich mich, habe ich an einer Mauer gesessen und den Sand durch meine Finger rieseln lassen. Ich kann mich nicht erinnern mit anderen Kindern gespielt zu haben. Ich kann mich auch an keine Namen erinnern.
Wir müssen uns ja irgendwo gewaschen haben. Es gibt da nur das dumpfe Gefühl von verwinkelten, weiß gekachelten Wänden, kaltem, eiligen Waschen und Zähne putzen.
Ich wüsste nicht das ich zuhause über das Erlebte geredet habe. Viele Jahre später habe ich versucht meine Mutter zu befragen. Sie konnte sich angeblich nicht an irgendetwas Negatives erinnern.
Ich kann mich nicht erinnern geschlagen worden oder körperlich misshandelt worden zu sein, aber ich konnte bis in Erwachsenenalter keine körperliche Nähe ertragen. Die Ursache kenne ich bis heute nicht.
Es gibt ein Gruppenfoto von den anderen Kindern und mir. Ich schaue ob man es hochladen kann. Vielleicht gibt es jemand der zur gleichen Zeit da war.
Kirsten
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Von: Kirsten
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