Sehr geehrte Frau Röhl, ich freue mich, dass ich endlich eine Seite gefunden habe, die sich mit diesen Schrecken beschäftigt!
Ich selbst habe durch meine gesamte biologische Familie ALLE Arten des Missbrauchs über die ersten 17 Jahre meines Lebens erfahren. Da der erste sexuelle Missbrauch mit 4 Jahren durch meinen Vater erfolgte, entwickelte ich sofort eine schwerwiegende Essstörung und wurde „zu dick“.
Als ich 8 Jahre alt war (1994), wurde ich dann von heute auf morgen zur „Kur“ nach Wyk auf Föhr geschickt. Damals hat man mir nichts erzählt, sondern nur gesagt, ich müsse jetzt zur Kur, weil ich zu fett sei. Ich reiste mutterseelenallein auf einem Schiff mit über hundert anderen Kindern zwischen 2 und 10 Jahren. Alle weinten und waren schwer verstört.
Das Heim selbst war ein sehr großes, kahles Gebäude, das wie ein Krankenhaus aussah.
Da mir erst jetzt mit 32 langsam durch meine Therapie bewusst wird, was mir dort noch zusätzlich angetan wurde, kann ich mich nur an sehr wenig erinnern.
Man musste durch einen dunklen, langen Keller gehen, bis man im Inneren des Gebäudes war. Mädchen und Jungs wurden sofort getrennt. Ich musste mit 18 fremden Mädchen in einem Zimmer schlafen und hatte keine Privatsphäre.
Nach 18 Uhr durfte man das Zimmer nicht verlassen und nachts nicht auf die Toilette. Morgens musste man bis zur Erschöpfung Sport treiben und bekam so gut wie nichts zu essen. Magerquark und Paprika waren an der Tagesordnung.
Ein Mal pro Woche erfolgte das große Wiegen, vor dem wir alle Angst hatten. Wir mussten uns bereits auf dem Flur vor allen anderen bis auf das Höschen ausziehen, damit der Wiegevorgang so schnell wie möglich von statten ging.
Es wurde nicht mit uns gesprochen, und es wurde auch nicht gespielt. Gut, das kannte ich von zu Hause nicht anders, für die anderen Kinder, die normale Eltern hatten, war es aber ganz schlimm.
Furchtbar fand ich, dass jeder ständig Zugriff auf mein bisschen Eigentum hatte, das ich mitnehmen durfte. Ständig schlugen mich die anderen Kinder und stahlen meine Sachen. Auch das kannte ich von zu Hause nicht anders.
Das Schrecklichste war allerdings, dass wir kaum etwas zu Trinken bekommen haben, vor allem um 18 Uhr beim „Abendbrot“, das für uns „Dicke“ sehr spärlich ausfiel. Wenn man dann nicht in Sturzbächen den ekligen Tee in sich hineingekippt hatte, gab es bis zum nächsten Morgen um 9:30 nach dem Sport keinen Tropfen.
In diesem Verschickungsheim wurden zu „dicke“ und zu „dünne“ Kinder aufbewahrt, um eben ab- oder zuzunehmen. Ich selber kann nur von uns Dicken erzählen. Die „Dünnen“, die es, nach unserem Empfinden, „besser“ hatten, wurden durch eine Trennwand im Speisesaal von uns abgeschottet.
Vor einigen Wochen wurde mir plötzlich vieles von damals wieder bewusst. Ein Betreuer, vor dem viele von uns, vor allem Mädchen, wahnsinnige Angst hatten, hat mich dort sexuell missbraucht.
Was uns allen passiert ist, haben viele hier schon erwähnt. Dennoch möchte ich es der Vollständigkeit halber nicht auslassen.
Unsere Betten und Habseligkeiten wurden, wenn die Betreuer Lust hatten, durchwühlt, um zu verhindern, dass wir heimlich naschen. Es gab dort weit uns breit nichts, außer dem Strand, sodass wir uns nichts richtiges zu essen und auch nichts zu naschen kaufen konnten.
Zu dem sexuellen Mißbrauch möchte ich keine Einzelheiten öffentlich nennen, damit niemand schwer getriggert wird.
Generell lief das dort alles ab wie beim Militär, oder wie bei mir „zu Hause“. Ich kannte es nicht anders und war deshalb ein sehr leichtes Opfer.
Dieses Verschickungsheim wurde 1995 oder 1996 geschlossen, weil es Kinder gab, die sich an den sexuellen Missbrauch erinnern konnten und das Glück hatten, Eltern zu haben, die sich für sie interessierten und ihnen zuhörten. Diese stellten Strafanzeige und das Heim wurde geschlossen.
Diesen Umstand habe ich nur aus der Zeitung erfahren, als meine Mutter abfällig zu mir meinte: Ach, das ist doch das Kurheim, in dem du warst! Das wird jetzt geschlossen, weil sie dort reihenweise Kinder vergewaltigt haben.“ Ob mir da etwas passiert ist, hat niemanden interessiert.
Leider gab es damals noch kein Internet und heutzutage findet man über diese Einrichtung keine Informationen mehr. Lediglich, dass die AOK 1998 ein bestimmtes Heim aufgekauft und renoviert habe – Das könnte es sein.
Zumindest weiß ich, dass die AOK diese Verschickung damals bezahlt hat.
Natürlich lagen die drei Monate, die ich dort bleiben musste (wer zu wenig abnahm, musste zur Strafe noch einen Monat länger bleiben) in der normalen Schulzeit.
Unterricht gab es dort nicht. Wir mussten unsere Schulbücher mitnehmen und sollten in unserer Freizeit eigenständig lernen.
Das einzig „Positive“, an das ich mich erinnere, ist, dass wir damals den ersten Ghostbusters- Film auf einem winzigen Schwarz-Weiß-Fernseher sehen durften und dazu einen Lebkuchenmann bekamen.
Ich hasste Lebkuchen schon damals und würgte das Ding unter Tränen runter, da ich froh war, überhaupt mal etwas zu Essen zu bekommen.
Es war im Speisesaal, dieses Mal ohne die Trennwand, und so saßen wir mit ca. 250 Kindern eng gedrängt in dem Raum und starrten wie gebannt auf den Mini- Fernseher.
Wir wurden gezwungen, alles, was wir aßen, penibel aufzuschreiben und, bevor wir es essen durften, den Kalorienwert zu schätzen. Wer weinte, Heimweh hatte oder sonst irgendwie seinen Gefühlen freien Lauf ließ, wurde extra bestraft. Dieses Prozedere kannte ich bereits von „zu Hause“, daher war ich perfekt angepasst und weinte nur direkt nach dem sexuellen Mißbrauch, was auch wieder hart bestraft wurde.
Ich fühle mit allen Menschen, die jemals so ein abartiges „Kinderkurheim“ von Innen sehen mussten und kann viele Geschichten hier nur bestätigen. Die schwerwiegenden Traumata, die allein durch diese Verschickung angerichtet wurden, hätten gereicht, um eine zarte Kinderseele vollends zu zerstören.
Da ich persönlich „zu Hause“ genauso behandelt wurde, habe ich eine schwere komplexe posttraumatische Belastungsstörung, chronische Migräne, Alpträume, Sozialphobie, Burn-Out, und chronische Depressionen entwickelt.
Es ist einfach nur grausam, was sie uns damals alles angetan haben, vor allem auch noch legal! Der Zusatzparagraph für schweren sexuellen Missbrauch wurde erst 1998 eingeführt. Alles, was davor liegt, verjährte bereits innerhalb von drei Jahren, manchmal sogar innerhalb eines Jahres.
Diese Verschickungsheime waren einfach nur Gefängnisse für unschuldige Kinder, um die sich niemand kümmern wollte, mit denen nie jemand geredet hat und die mit härtestem NS- Drill gebrochen wurden.
Es ist wichtig, dass wir uns wieder erinnern können und uns endlich trauen, zu sagen, was man dort mit uns gemacht hat! Nur, weil es damals niemanden interessiert hat, dürfen diese massiven Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht totgeschwiegen werden!
Für mich ist es kaum zu ertragen, dass diese „Betreuer“ oder „Erzieher“ dort auch noch richtig gut an uns verdient haben. Dafür, dass sie nichts getan haben, außer uns zu quälen und zu foltern.
Bitte, wenn auch Du, der oder die das hier liest, dich an deine Verschickung erinnerst, erhebe deine Stimme! Es darf nicht noch weiter bagatellisiert werden.