Hallo,
mit großem Interesse habe ich die Erfahrungsberichte auf den vorherigen Seiten gelesen. Immer wieder musste ich zustimmend nicken und denken, genauso war es. Ich bin jetzt 53 und war als Kind auf Norderney im Kinderkurheim ‚Opstalboom‘. Im Sommer 1972 wurde ich eingeschult, knapp nach dem 1. Halbjahr, im Frühjahr 1973 wurde ich zum Zunehmen für 6 Wochen auf die Nordseeinsel verschickt. Unser damaliger Hausarzt war der Meinung ich bin zu dünn und kam dann auf diese glorreiche Idee und hat mir dadurch ein großes Kindheitstrauma verursacht. Vorweg, die Zunahme hat funktioniert, wenn auch erst 2 Jahre später. Mein Trauma liegt unter anderen darin, dass ich auch heute noch Inseln hasse. Nach spätestens 1 Woche, wenn ich mich mal durchringe, bekomme ich ein Unwohlsein und muss zurück auf das Festland. Ich habe auch schon versucht, dieses Trauma zu bekämpfen und bin zurück an diesen Ort gefahren. Heute (seit 1982, so sagt die Inselchronik) ist das Gebäude eine Bank. Detaillierter berichtet die Inselchronik über das Kinderkurheim aber nicht. Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch die weißen Namensbändchen mit roter Schrift, die in jedes Wäschestück eingenäht werden mussten.
Bei uns gab es ständig Milchreis mit Zimt zu essen. Ich erinnere mich, dass es eine Bonusportion für die Verweigerer gab. So war schnell klar sich anpassen zu müssen, wenn man diesen unfreiwilligen Nachschlag nicht wollte. Auch nach fast 50 Jahren weckt Zimt die schlimmen Erinnerungen in mir. Da macht jede Weihnachtszeit so richtig Freude. Die beschriebenen Schokoladenpuddingsuppen muss es bei uns auch gegeben haben. Anders kann ich es mir nicht erklären, warum ich Schokolade mag aber an die Puddingversion nicht ran kann. Ein typischer Trigger ist der Geruch von Kakao und Bohnerwachs. Ich sehe die großen Metallkannen mit Klappdeckel auf den Tischen im Gemeinschaftsraum förmlich vor mir. Jeden Nachmittag wurde dieses Ritual abgehalten. Bei den Spaziergängen gab es Wanderungen zum Leuchtturm oder in die Dünen.
Auch den vorgegebenen Grußkarten nach Hause muss ich zustimmen. Die Schreibstunden, wenn man das so nennen kann bei einer Schulerfahrung von etwa 6 Monaten, waren Auslöser heftigster Heimwehattacken. Aber auch hier gab es die Parole, nichts negatives zu schreiben, sonst werden die Eltern traurig. Die völlig tränendurchnässten Postkarten sprachen eine andere Sprache. Die Gedanken an zu Hause ließen alle Dämme brechen.
Selbst die ausgewählten Erinnerungsbilder, die es zu Abschluß gab, waren durchdacht und sollten wahrscheinlich eine heile Welt in die Köpfe zurück zaubern. Aber diese Welt war leider zerbrochen. Vermutlich würde ich mich heute fürchten, wenn mich ein Arzt zur Kur schicken würde. Einen solchen Antrag habe ich bis heute nicht gewagt.
Heute bin ich ein introvertierter Mensch, brauche eine Zeit um Vertrauen zu fassen. An einer Aufarbeitung in einer Gruppe Gleichgesinnter bin ich auch interessiert.