Ich war im Winter 69 oder 70 im Kinder KZ Brilon. Belegt wurde das Haus von der Barmer Ersatzkasse. Eine zusammenhängende Erinnerung habe ich heute nicht mehr. Aber ein paar Dinge sind mir in Erinnerung geblieben. Das Haus lag recht einsam in einer schönen Umgebung mit Blick über ein Tal.
Bei der Ankunft wurden uns alle persönlichen Dinge abgenommen. Insbesondere das Taschengeld. Das Taschengeld bekamen wir am Tag unserer Abfahrt „zurück“, damit wir es gleich in Geschenke für unsere Lieben daheim eintauschen konnten. Dazu gehörte auch ein Bild mit Pony, was ein Fotograf jeweils von allen Kindern gemacht hatte. Dann haben sie uns allerlei Müll angedreht, bis alles Geld verbraucht war.
Geprägt war der Aufenthalt von militärischem Drill, Bloßstellung und willkürlichen, drakonischen Strafen für Nichts. Stundenlanges in der Ecke stehen und Isolation von der Gruppe. Es gab brutalen Esszwang, öffentliches Wiegen mit der Androhung einer Verlängerung, wenn man nicht genug zunähme. Abgeduscht wurden wir mit einem Wasserschlauch im Keller. Alle Kinder standen nackt im Treppenhaus und die Kellertreppe hinunter bis in die Waschküche. Das Wasser war viel zu heiß und ich wurde verbrannt. Das ganze Prozedere war erniedrigend und ich habe mich unglaublich geschämt. Ich bin mir nicht ganz sicher, vor Allem weil mir als damals naiver Neunjähriger aus wohlbehütetem Elternhaus einfach die Vorstellungskraft dafür fehlte, aber ich erinnere mich an ein „komisches Gefühl“ bei diesen Duschveranstaltungen. Vermutlich wurden wir da befingert und es waren erstaunlich viele Leute anwesend, die ich sonst nie im Haus gesehen habe, darunter auch zwei Männer. Aus heutiger Sicht vermute ich, dass sich da ein paar Pädophile an den nackten Kindern aufgegeilt haben. An einen direkten Übergriff kann ich mich aber nicht erinnern. Ich denke, ich hätte das auch nicht als solchen erkannt oder benennen können. Da hätte ich noch nicht einmal Worte für gehabt. Nur dieses Gefühl, was ich selbst heute nicht genau beschreiben kann.
Was ist geblieben und hat es mir dauerhaft geschadet?
Geblieben ist der Blick auf den gegenüberliegenden Berghang. Ich war im Winter dort. Ständig zogen Wolkenfetzen durch das trübe Tal und die Bäume am Hang gegenüber. Ich habe die ganze Zeit aus dem Fenster auf diesen Berg gestarrt. Bis heute beschleicht mich Beklemmung, wenn irgendwo in den Mittelgebirgen einen ähnliches Panorama entdecke. Ein Gefühl von unendlicher Einsamkeit und hoffnungsloser Verlassenheit.
Es gibt eine Essmacke, die ich auf den Aufenthalt dort zurück führe. Ich kann es nicht leiden, wenn mir bei Tisch jemand etwas auf den Teller tut und bestimmte Speisen verursachen mir ekel.
Es gibt einen Traum, den ich dort geträumt habe. Diesen Traum träume ich heute noch manchmal. Geblieben sind auch die bereits geschrieben Erinnerungen und Gefühle, die ich auch Heute nicht genau beschreiben kann.
Ich habe aber nach dieser Zeit dort nicht an irgend welchen Folgen gelitten. Außer vielleicht daran, dass aus einem dünnen Hering ein fetter Mops geworden ist. Das könnte eine Folge der Kindermast gewesen sein. Aus damaliger Sicht, war das sicher ein grandioser Erfolg.
Ansonsten kann ich mich nicht an Albträume oder sonstige schreckliche Dinge erinnern, die mich verfolgt hätten. Ich habe das vermutlich als normal empfunden. Meine Unwissenheit hat mich wahrscheinlich auch irgendwo geschützt. Mir war es wohl eher peinlich, dass ich mich nicht geschickt habe. So ein großer Junge hat Heimweh wie ein kleines Kind. Da habe ich mich wohl eher für geschämt.
Erst als ich erwachsen war konnte ich die Dinge anders bewerten und einordnen. Sicher war es ein traumatisches Erlebnis. Das es ein bleibendes Trauma bei mir hinterlassen hat, würde ich jetzt mal verneinen. Aber dieses Gefühl der unendlichen Verlassenheit, ist mir beim Schreiben dieser Zeilen wieder sehr präsent. Und sicher hat diese Zeit dort auch das Potential gehabt, bleibende Schäden zu hinterlassen.
Letztendlich reflektiert habe ich diese Zeit nur, weil es dazu von außen Impulse gab. Berichte in Medien und auch bei Erzählungen von Zeitgenossen, die sich an Ihre Zeit in der Kinderverschickung erinnerte. Nicht alle Berichte meiner Zeitgenossen waren wirklich negativ. Meine Erinnerungen waren bis dahin auch eher wertfrei. Erst in der distanzierten Betrachtung ist mir klar geworden, was man uns damals angetan hat.
Zusammengefasst würde ich sagen, ich wurde definitiv körperlich und seelisch misshandelt. Eventuell auch sexuell missbraucht. Das es vermutlich tausenden Kindern in dieser Zeit ähnlich ergangen ist und es keinerlei Aufklärung gab, scheint aus heutiger Sicht nahezu unvorstellbar. Durch Krankenkassen finanzierte Kinderquälerei und Eltern die das noch als eine Art Privileg empfunden haben. Vermutlich war genau das der Grund, warum es keinen Aufstand gab. Das konnte ja einfach nicht sein. Mein Kind hat sich halt nur nicht geschickt…..